Musizierende Linkshänder_innen

Nachdem das Schreiben mit der dominanten Hand schon von allen fortschrittlichen Pädagog_innen als selbstverständlich erachtet wird, geht es nun darum, auch beim Musizieren die Bedeutung der
Händigkeit zu erkennen. Die üblicherweise angebotenen Instrumente sind allesamt für den rechtshändigen Gebrauch konstruiert und Rechts- und Linkshänder_innen spielen gleichermaßen darauf.
„Da beim Instrumentalspiel beide Hände beschäftigt sind, übersieht man oft, dass die Aufgaben der beiden Seiten - trotz ähnlicher Bewegungsabläufe - sehr unterschiedlich sind. Es stellt sich also die Frage, ob die Dominanz einer Seite ausgerechnet bei einer Tätigkeit, die das Gehirn motorisch und emotional wie kaum eine andere fordert, tatsächlich keine Rolle spielt." (Walter Mengler: „
Musizieren mit links", S.43; S.7)
Walter Mengler zählt in seinem Buch „Musizieren mit links" drei Bereiche auf, in denen sich die
Überlegenheit der dominanten Hand im Bezug auf das Musizieren zeigt:
Krafteinsatz: Beim Musizieren ist vor allem die Fähigkeit von Bedeutung einen mittleren Kraftaufwand lange durchzuhalten und Aktivitäten im unteren Kraftbereich präzise kontrollieren zu können.
Manuelle Geschicklichkeit: Präzision, Reaktionsgeschwindigkeit und Gleichmäßigkeit einer Bewegung sind unerlässlich für
Ausdrucksfähigkeit: Beim Gestikulierten mit großem emotionalen Ausdruck ist stets die dominante Hand in Aktion. Die dominante Hand sollte beim Musizieren den stärker bewegten Part übernehmen, um einen überzeugenden Gefühlsausdruck zu erreichen.
Natürlich verfügt auch die nicht dominante Hand über wichtige Fähigkeiten, die für einen reibungslosen Bewegungsablauf nötig sind. Ihre Aufgabe ist es beim Musizieren ebenso wie bei anderen beidhändigen Tätigkeiten, die Aktivitäten der dominanten Hand vorzubereiten und zu begleiten.
Die Folgen einer Umschulung beim Musizieren kann durchaus mit jenen beim Schreiben verglichen werden, da es sich in beiden Fällen um komplexe motorisch und emotional ungemein fordernde Tätigkeiten handelt.
Folgende Probleme
linkshändiger Musiker, die „normal" spielen, sind auf die Anpassung an eigentlich für Rechtshänder ausgerichtete Instrumente zurückführen:
- schnelle Ermüdung der rechten Seite durch zu hohen Krafteinsatz
- angestrengte Bogenhaltung der rechten Hand bei Streichern
- geringere Repetitionsfähigkeit (Tastenanschlag, Bogen- bzw. Zupfbewegung)
- oft vermissen jene Musiker_innen auch ein Wohlgefühl beim Spielen, den sogenannten „Flow", die Bewegungen bleiben künstlich und unnatürlich
- Im psychischen Bereich: stellt sich häufig „ein grundsätzliches Gefühl von Unsicherheit" ein, das sich „unter Stress verstärkt"
Die geschilderten Symptome treten „individuell verschieden" auf, aber alle Linkshänder_innen, die auf einem Rechtshänder-Instrument spielen - auch wenn sie dies erfolgreich und beruflich tun zahlen ihren Preis für die Vertauschung der Handpräferenz. (vgl. ebd. 46-51)
Zu den Problemen „normal" spielender Linkshänder_innen beim Musizieren bringt Walter Mengler einen treffenden Vergleich:
„Fahrradfahren und Musizieren am Instrument haben einiges gemeinsam. Die Bewegung aus eigener Kraft, die starke Abhängigkeit vom technischen Gerät, die wechselnden Anforderungen im Verlauf eines Stücks bzw. einer Strecke von leichtem Dahin rollen bis zur schwierigsten Bergstrecke und natürlich auch das enorme Glücksgefühl, sei es während der Fahrt durch eine Landschaft oder während des Spiels eines Musikstückes. Für das Spielen eines Linkshänders auf einem Rechtshänder-Instrument drängt sich ein Vergleich geradezu auf: Es ähnelt dem Fahrradfahren mit leicht angezogener Handbremse. Wenn man es nie anders kennen gelernt hat, wird man es möglicherweise nicht einmal merken, denn man kann auch mit angezogener Bremse fahren und kommt ans Ziel, allerdings sehr viel erschöpfter und vermutlich nicht als Sieger eines Radrennens." (ebd. S. 43-44)
Hören sie hier ein
Interview des SWR2 mit
Walter Mengler und
Maria Augustin, das beim Workshop
(Links-) Händigkeit beim Musizieren am 16.6.2012 in Kapfenburg (BRD) aufgenommen und am 20.6.2012 in der SWR2 Sendung Journal am Mittag ausgestrahlt wurde.
Dieses Thema wird in nächster Zeit
eine große Herausforderung an die Musikpädagogen darstellen:
„In einer Zeit, in der die individuelle Förderung und Entwicklung der Kinder zu Recht immer mehr an Bedeutung gewinnt und auch die Instrumentalpädagogik immer feiner und differenzierter wird, gehört die Frage einer händigkeitsgerechten Entwicklung in jedes pädagogische Curriculum. Gerade in der Musik, wo es um Kreativität und persönlichen Ausdruck, aber auch um komplexe motorische Abläufe geht, verdient ein so wichtiger Aspekt der Persönlichkeit besondere Beachtung." (Winfried Stegmann, Leiter der Landesmusikakademie Hamburg)
Bedenkt man dabei auch noch, dass sich viele Menschen ihrer angeborenen
Linkshändigkeit nicht bewusst sind, weil sie sich schon sehr früh an die durch Rechtshändigkeit dominierte Gesellschaft angepasst haben. So steht man vor einem scheinbar unlösbaren Problem. Aber eigentlich könnte die Lösung ganz einfach sein: „Kinder, die aus dem Reflex heraus das Instrument nach links „in der Luft spielen" sollen ein Linkshänder-Musikinstrument spielen, und jene die nach rechts „spielen" sollen ein Rechtshänder-Instrument spielen. Es gibt hier nichts zu überlegen. Das ist eine ganz logische Angelegenheit. Nur so ist es richtig. Und dem sollte man einfach nachgeben." (Maria Augustin in einem Interview mit Franziska Dreisiebner)
So wie das Schreiben mit der linken Hand vor zwei Generationen noch kaum denkbar war, wird auch die Veränderung im Bereich Musizieren nicht von heute auf morgen vollziehbar sein.

Aber es gibt auch schon in Österreich
linkshändige Kinder, die ihrer Anlage entsprechend unterrichtet werden. Das Bild der linkspielenden Gitarist_in ist an einer Wiener Musikschule entstanden.
Und ein gelungenes Beispiel für das Geige spielen mit links können Sie hier sehen:
Tamara aus Klosterneuburg, zum Zeitpunkt der Aufnahme ist Sie 6 Jahre alt.

Der Anfang ist schon gemacht:
- Es gibt bereits Musikpädagog_innen die ganz selbstverständlich auf die Händigkeit der Schüler_innen eingehen.
- Das Bewusstsein für die Problematik wächst, immer mehr Eltern informieren sich bevor ihr linkshändiges Kind ein Instrument erlernt.
- Vereinzelt haben linksspielende Musiker_innen Platz in einem Orchestern gefunden, denn auch für dieses oft als unlösbar dargestellte Problem, gibt es kreative Lösungsansätze, wenn es gelingt, sich von alten Denkschematas zu verabschieden.
- Die Erfahrungen einzelner Musiker_innen während und nach dem Wechsel auf ein Linkshänder-Instrument wird andere Betroffene ermutigen diesen Schritt zu tun.
- In einigen wenigen Sparten gibt es schon heute geeignete Instrumente (Gitarren, Geigen, und seit 2011 gibt es eine Linksquerflöte für Anfänger auf den Markt). Bei sehr vielen Instrumenten ist dies noch nicht der Fall. Aber die anderen Erzeuger werden bei entsprechender Nachfrage ebenfalls auf diesen Zug aufspringen.
Erfreuliche Momente -
davon berichtet auch
Maria Augustin, eine (
rückgeschulte) Linkshänderin, die als Profimusikerin vor 1 ½ Jahren auf eine
Linksquerflöte umgestiegen ist:
… der Atemfluss war sofort viel besser und das Musizieren hat sich in diesem Zusammenhang viel schöner angefühlt.
… ich hab viel weniger Denkschritte beim links spielen.
… Jetzt denk ich nicht mehr darüber nach wie die Melodie klingen soll, sondern ich spiel sie einfach.
… ich war auch nie wirklich gut beim „vom Blatt lesen". Das war immer ein einziger Stress für mich.
… auch wenn das Stück schwierig zu spielen ist, der Blick ist jetzt total relaxed.
Über ihre Erfahrung während und nach der
Umschulung der Schreibhand und der Querflöte berichtet Maria Augustin (Flötistin und Musikpädagogin) in einem Interview, das Franziska Dreisiebner im Juli 2012 mit ihr geführt hat:
1.Teil: Der Prozess vom Erkennen ihrer Linkshändigkeit über ihre
Rückschulung auf die linke Schreibhand und den damit verbundenen Wahrnehmungen und positiven Veränderungen -
lesen Sie mehr …
2.Teil: Linkshändig musizieren. Ihre persönlichen und beruflichen Erfahrungswerte unter Einbeziehung der Expertise von
Walter Mengler, Deutschland -
lesen Sie mehr …
Weiters sehen Sie ein Portrait von Maria Holzeis-Augustin in
Heute Leben - 25. März 2013 - ORF2
Weiterführende Hinweise:
Walter MenglerCellist im Sinfonieorchester Aachen,
Musikpädagoge,
Lehrbeauftragter für Cellodidaktik an der Musikhochschule Köln
www.cello-ergonomie.de
Musizieren mit links -
linkshändiges Instrumentenspiel in Theorie und Praxis.
Schott Music GmbH&Co KG, Mainz 2010.
Geza Loso
Der Pianist Geza Loso wurde 1951 in Budapest als Linkshänder geboren. Er hegte von Jugend an den Wunsch auf einem Linkshänderklavier zu spielen, um seiner Musik mehr Ausdruck verleihen zu können. Er blieb über lange Jahre seinem Traum treu und ließ sich durch nichts beirren. 2000 kam dann für ihn endlich der Durchbruch. Die alt-ehrwürdige Firma Blüthner in Leipzig, deren Inhaber selbst „links-begabt" sind, nahm sich der Loso′schen Idee an und baute das Modell: Blüthner Nr.4, den weltweit ersten modernen Konzertflügel für Linkshänder. 2001 konnte dieser Flügel auf der Frankfurter Musikfachmesse zum ersten Mal bewundert und betastet werden.
www.gezaloso.de
Jan Grimm
Jan Grimm wurde 1989 in Zürich geboren. Er spielt seit seinem 9. Lebensjahr intensiv Querflöte. Er gewann etliche nationale Musikwettbewerbe mit ersten Preisen, in solistischen wie auch kammermusikalischen Kategorien. Er reiste mit Orchester auf zahlreichen Tourneen durch Japan, Südkorea, Deutschland, England, Spanien und Italien. Neben der Klassik ist Jan auch an den Welten des Jazz und des Tangos interessiert. Zusätzlich zu der herkömmlichen Querflöte spielt Jan Grimm auch eine weltweit einzigartige linksseitige Querflöte.
Konzert für zwei Flöten (Jan Grimm spielt Linksquerflöte) -
siehe auf youtube
Jan Grimm präsentiert seine Bachelor-Arbeit zur Linksquerflöte: -
siehe auf youtube
weitere Beispiele linkspielender Musiker_innen auf youtube
Ashley MacIsaac www.ashleymacisaac.comspielte schon als Kind herausragend - und zwar linkshändig auf einer nicht umgebauten (!) RH-Geige.
siehe auf youtube - und so spielt er bis heute!
siehe auf youtube
Kinnon Beaton and Andrea BeatonVater und Tochter mit
Linkshändergeige und Rechtshändergeige -
siehe auf youtube
Kimberley FraserOrchesterkonzert - Kimberley Fraser spielt die Sologeige mit links -
siehe auf youtube
Katrina Pearce (Idaho)Left-handed Grand Master Fiddler champion Katrina Pearce plays the fiddle -
siehe auf youtube
Produkte:
Witzmann Musikinstrumente - Saiteninstrumente und Flöten für Linkshänder_innen können
nach fachlicher Beratung durch Frau Witzmann, die selbst Linkshänderin ist, bestellt werden.
1070 Wien, Westbahnstraße 37, Tel. + Fax: +43 1 526 79 84 - Email:
musik.1 (at) vienna.at
Musikinstrumente - Geigen, Gitarren, Bass für Linkshänder -
www.linkshaender-shop.info
„viento" Linksquerflöten -
www.viento-querfloeten.de
Gitarren-Grifftabelle für Linkshänder: Grundlegende Gitarrenakkorde für Linkshänder - von Jeromy Bessler, Norbert Opgenoorth - Leseprobe unter -
www.voggenreiter-shop.de
zusammengestellt von Mag
a Andrea Hayek-Schwarz - 2012
zurück zu Wissenswertes